Gratulation, Gilles Roulin! Bereits vier Rennen vor Schluss standest du als Gesamtsieger im Europacup fest. Was bedeutet dir dieser Erfolg?
Den Gesamtsieg realisieren zu können, vor allem mit dieser Siegesserie, war eine grossartige Sache, die ich so nicht erwartet hätte. In erster Linie bedeutet dieser Erfolg natürlich einen Fix-Platz in sämtlichen Disziplinen. Das ist einerseits eine riesen Chance, andererseits aber auch gefährlich, sollte es mit den Ergebnissen im nächsten Jahr etwas harzen. Es könnte dann schnell passieren, dass ich zwischen Weltcup und Europacup hin und her wechseln muss, und somit die Quantität der Wettkämpfe enorm würde.
Du bist der siebte Schweizer, der auf zweithöchster Stufe triumphiert. Unter deinen Vorgängern figurieren auch internationale Top-Athleten wie Jansrud, Hirscher oder Pinturault. Wie fühlt sich das an?
Fantastisch! Es macht natürlich stolz und doch ist es eben nur die zweithöchste Stufe. Das bedeutet für mich, dass ich mich auf einem guten Weg befinde.
Allerdings bedeutet es auch, dass ich noch nicht am Ziel bin. Ausruhen darf ich mich keines Falls, im Gegenteil: Der Erfolg weckt natürlich Erwartungshaltungen. Diese Erwartungshaltung kann sich förderlich, aber auch hinderlich auf die Leistung auswirken. Deshalb ist es wichtig, diese Erfolge richtig einzuordnen und zu verstehen, um sie anschliessend in den Erinnerungen zu speichern für Zeiten, in denen es vielleicht weniger läuft.
Dein Aufstieg kam ganz plötzlich: Bis am 6. Januar 2017 standest du noch nie auf einem EC Podest. Jetzt, gut sieben Wochen später kannst du bereits sieben Siege vorweisen. Woran liegt das?
Mein Geheimrezept kann ich natürlich nicht verraten (lacht). Nein, natürlich spielen viele Faktoren eine wichtige Rolle. Ich habe Glück gehabt, in eine Trainingsgruppe zu kommen, die sehr gut funktioniert hat. Die Chemie im Team hat auf Anhieb gepasst. Die Zusammenarbeit mit Trainer Bertrand und der Austausch mit Servicemann lvo haben super funktioniert. Darüber hinaus habe ich die gesamte Vorbereitung verletzungsfrei bestreiten können, was bis jetzt noch nicht oft der Fall gewesen ist. Ich hatte in der Vorbereitung ein gutes Gefühl und konnte mit Selbstvertrauen in die Saison starten. In Wengen gelang mir dann das erste Podest, da habe ich natürlich Lunte gerochen und es begann immer besser zu werden.
Am Wochenende durftest du zum ersten Mal an einem Weltcuprennen teilnehmen. Wie war es?
Es war sensationell. Ich habe mich riesig gefreut, dass ich die Möglichkeit auf mein erstes Weltcuprennen bekam. Die Eindrücke, die ich gewinnen konnte, werden sehr wichtig für mich sein, vor allem im Hinblick auf die Vorbereitung für nächstes Jahr. Es galt herauszufinden, wo meine Defizite im Vergleich zu den arrivierten Athleten liegen.
Wo liegen die Unterschiede zu Europacuprennen?
Die grössten Unterschiede sind in der Länge und der Präparation der Piste sowie in der Kurssetzung zu finden. Die Pisten sind eisiger und die Torabstände weiter, dadurch ist das Tempo natürlich dementsprechend höher. In Kvitfjell fiel der Zuschauerandrang noch verhalten aus, aber das wird dann nächstes Jahr vor allem in Wengen und Kitzbühel anders.
Mit welchen Erwartungen bist du nach Kvitfjell gereist?
Erwartet habe ich vor allem von mir selber, dass ich eine anständige Leistung abliefere. Mein Ziel war es, eine solide Leistung zu bringen, um zu sehen, wie viel noch fehlt auf die Besten der Welt. Zudem war mir wichtig, dass ich meinen Plan und meine Rennrituale gleich einhalten kann, wie an den anderen bisherigen Rennen. Also nicht plötzlich irgendetwas anders zu machen, nur weil auf der Verpackung neu Weltcup statt Europacup stand.
Wie wurdest du als Weltcup-Neuling im Team aufgenommen?
Sehr gut. Natürlich war ich etwas nervös. Die Mannschaft und die Coaches waren aber ausgesprochen freundlich und die Nervosität legte sich schnell.
Mit deinem Sieg in der EC-Gesamtwertung hast du nächste Saison einen fixen Starplatz im Weltcup und zwar in jeder Disziplin. Hast du damit deine Ziele erreicht?
Die Ziele für diese Saison habe ich damit sogar übertroffen. Ich hätte nicht mit der Gesamtwertung gerechnet. Nun habe ich mir neue Ziele gesetzt, was bedeutet vielen neuen Aufgaben und Pflichten gerecht zu werden. Darauf möchte ich mich im Hinblick auf nächsten Winter bestmöglich vorbereiten.
Für Personen, die dich noch nicht kennen: Wer ist Gilles Roulin? Beschreibe dich in einigen Sätzen.
Charakterlich würde ich mich als ruhig, ehrlich, pragmatisch und geradlinig bezeichnen. Ich habe genaue Vorstellungen, was ich will. Ich bin sehr stur, was sicher nicht immer einfach ist, aber manchmal vielleicht notwendig, um meine Ziele zu erreichen. Zudem bin ich sehr neugierig, was ab und zu ganz hilfreich, aber für andere wahrscheinlich manchmal auch mühsam sein kann.
Ansonsten bin ich sehr sportbegeistert, koche gerne und lese viel.
Du absolvierst ein Jura-Fernstudium und nimmst damit eine extreme Doppelbelastung auf dich. Warum?
Leider kann man nur während eines sehr begrenzten Zeitraumes auf einem Niveau Skifahren, das einem erlaubt, tatsächlich davon zu leben. Im Hochrisiko-Sport kann eine einzige Verletzung das Karriereende bedeuten. Zudem: Wer sagt mir, dass ich langfristig überhaupt eine Chance habe, Skirennen auf allerhöchstem Niveau bestreiten zu dürfen? Deshalb benötige ich einen Plan B, für den Fall, dass meine Träume nicht wahr werden.
Autor: rli
Quelle: www.Swiss-Ski.ch