5 November 2019

Michelle Gisin im Swiss-Ski Interview: „Es gab im Januar Phasen, in denen ich nicht sicher war, ob ich alles packen werde.“

Michelle Gisin im Swiss-Ski Interview: „Es gab im Januar Phasen, in denen ich nicht sicher war, ob ich alles packen werde.“
Michelle Gisin im Swiss-Ski Interview: „Es gab im Januar Phasen, in denen ich nicht sicher war, ob ich alles packen werde.“

Michelle Gisin hat einen ereignisreichen letzten Winter hinter sich, in welchem sie gleich zweimal mit den Schattenseiten des Skisports konfrontiert wurde. Die Saison 2019/20 nimmt die Allrounderin mit grosser Ruhe und unveränderten Zielen in Angriff. Beim Auftakt in Sölden gelang ihr bei ihrem Comeback mit Rang 9 ein persönliches Bestergebnis im Riesenslalom. Damit hat Gisin nun in allen Disziplinen ein Top-10-Ergebnis auf höchster Stufe zu Buche stehen.

Im Swiss-Ski Interview erzählt die 25-jährige Engelbergerin von kräfteraubenden Momenten im vergangenen Winter, wie sie nach ihrem grössten Sieg Kritik aus dem engsten Umfeld bekam und dies absolut super fand und warum zwei FIS-Rennen in Zinal für ihren weiteren Karriereverlauf entscheidend waren.

Die vergangene Saison endete für dich aufgrund einer Knie-Operation abrupt, rund zwei Monate früher als erhofft. Welche Änderungen waren damit in Bezug auf die Vorbereitung für den kommenden Winter verbunden?

Michelle Gisin: Es ist alles viel ruhiger verlaufen. Ich habe diese Ruhe gesucht und wusste, dass ich viel mehr Zeit habe. Das hat mir wahnsinnig gut getan. Zu 90 Prozent bin ich mit dem Kopf gleichwohl beim Leistungssport gewesen, aber die restlichen 10 Prozent habe ich Luft gehabt. Ich machte mir Überlegungen dahingehend, wo es in der Zusammenarbeit mit meinem Betreuerteam noch Potenzial nach oben gibt – dies freilich bereits auf einem sehr hohen Niveau als Ausgangspunkt. Es war für mich eine Chance, alles auf null zu stellen und mich mit mir selbst auseinanderzusetzen.

Welche Schlüsse hast du aus diesem Reflexionsprozess ziehen können?

Ich führte interessante Gespräche mit meinen Trainern, Physios und meiner Schwester Dominique, die als eine Art «externe Beraterin» beobachtend wirkt. In den zurückliegenden Jahren hat sich alles irgendwie fliessend ergeben, zum Technik-Training kam jenes für die Speed-Disziplinen hinzu. Das brachte mit sich, dass Dinge vereinzelt über mehrere Ecken liefen. Nun war es mir ein Anliegen, dass die Kommunikation untereinander – zwischen meinen etlichen Betreuern von beiden Teams sowie zwischen den Betreuern und mir – direkter, unkomplizierter vonstatten geht. In diesem Frühjahr war diesbezüglich Zeit, einen klaren Plan herauszuarbeiten. Es herrscht nämlich ein grosses Vertrauen von allen Seiten, vieles hat sich in den Abläufen gefestigt. Ich bin extrem dankbar, dass ich ein so tolles Umfeld habe. Es könnte wirklich nicht besser sein.

Die Knieverletzung geschah unmittelbar vor der WM, du wärst als Medaillen-Kandidatin nach Åre gereist. Anstatt mit deinem Schicksal zu hadern, hast du dich dankbar gezeigt, dass du während acht Jahren von schweren Verletzungen verschont geblieben bist. Mit diesen Aussagen hast du manche Aussenstehende sehr beeindruckt.

Mir wurde bewusst, dass ich nun mehr Zeit für mich habe. Ich habe es genossen, zu Hause zu sein und mit Kollegen etwas zu unternehmen. Ich habe mich ein wenig von den Medien abgekapselt. Mir gelang es sehr früh, die Verletzung zu akzeptieren. Auf der vierstündigen Heimreise von Garmisch-Partenkirchen nach Engelberg konnte ich das Geschehene realistisch einordnen. Der Punkt ist, dass ich weiss, dass es bei vielen anderen Athletinnen und Athleten ganz anders aussieht in Bezug auf verletzungsbedingte Rückschläge. Man schaut selten auf all die anderen, die das Glück nicht haben, ohne Verletzung durch eine Saison zu kommen. Was jemand durchmachen muss, der nach einer Verletzung das Comeback anstrebt, sieht man nicht. Innerhalb meiner Familie habe ich die tiefen Verletzungstäler gesehen. Es jubelt niemand, wenn man im Kraftraum wieder eine tiefe Kniebeuge mit 30 Kilogramm schafft. Man ist in den schwierigen Momenten ganz alleine. Durch den Umstand, dass ich das in meinem engen Umfeld jahrelang gesehen habe, bin ich sensibilisierter, wenn andere Athleten um mich herum von Verletzungen betroffen sind. Es gibt Athleten, die schon froh sind, wenn sie mal über zwei Jahre hinweg verletzungsfrei sind. Ich war mehrere Jahre gesund, durfte eine Heim-WM erleben, danach Olympische Spiele. In PyeongChang wurde mir bewusst, wie nah alles beieinander liegt. Wenn ich tags zuvor in der Abfahrt eine Kurve weiter oben stürze, dann gibt es keinen Heimflug mit einer Kombi-Goldmedaille, sondern einen mit Krücken. Unser Sport ist wunderschön, aber er kann auch brutal sein.

Du hast die Verletzungs-Historie innerhalb deiner Familie angesprochen. Nach dem Horror-Sturz deines Bruders Marc Mitte Dezember erlebtest du sehr schwierige Wochen.

Meine Energie-Reserven waren schlichtweg aufgebraucht. Es gab im Januar Phasen, in denen ich nicht sicher war, ob ich alles packen werde. Jede Startnummern-Auslosung, jeder Medien-Event, Dinge, welche mir ansonsten Energie geben, wurden sehr anstrengend. Alle wollten wissen, wie es Marc geht. Unsere Familie hat nach Marcs Verletzung unglaubliche Unterstützung und Anteilnahme gespürt, das hat uns sehr viel bedeutet. Aber wenn der Energiespeicher nahezu leer ist, braucht es auch Kraft. Ansonsten mag ich die öffentlichen Auftritte wie Startnummern-Auslosungen am Vorabend der Rennen sehr. Zu lächeln und in diesem Moment eher unwichtige Floskeln auszutauschen, war aber für einmal eher unangenehm. Ich freue mich aber bereits wieder auf die kommende Saison – mit hoffentlich ganz viel positiver Energie meinerseits und auch des Publikums!

Haben sich deine Ambitionen im Vergleich zum letzten Winter verändert?

Nein, ich will nach wie vor in allen Disziplinen an den Start gehen. Im Riesenslalom soll es einen Schritt nach vorne gehen, mir liegt diese Disziplin am Herzen. Mein Hauptfokus liegt auf der Abfahrt, hier will ich um die kleine Kristallkugel mitmischen. Ich hoffe, dass ich mich zum Auftakt der Speed-Saison wieder in den lockeren Zustand von vor einem Jahr bringen kann. Ich liebe die Rennen in Lake Louise. Hier habe ich in den vergangenen beiden Jahren drei Podestplätze herausgefahren – unglaublich!

Ist der Gewinn des Gesamtweltcups langfristig das grosse Ziel für dich?

Nur schon um die grosse Kristallkugel zu kämpfen und auch noch am Weltcup-Final in der Nähe dieser Kugel zu sein, wäre ein riesiger Traum. Der Gewinn des Gesamtweltcups ist eines meiner grössten Ziele. Es braucht eine perfekte Saison, um dies zu schaffen. Ich hoffe sehr, dass mir das gelingen wird.

Du bist stolz darauf, eine Allrounderin zu sein. Ist es für dich der grösste Erfolg, dies auf Stufe Weltcup geschafft zu haben?

Ich habe immer die Athleten bewundert, die in allen Disziplinen top waren. Für mich ist es kein Thema, eine Disziplin fallen zu lassen, denn ich identifiziere mich mit allen. Eine Allrounderin sein zu können, bedeutet mir sehr viel. Im vergangenen Winter hatte ich eine sehr gute Slalom-Saison, daran gilt es anzuknüpfen und nochmals ein, zwei Schritte nach vorne zu machen. Im Riesenslalom braucht es ein wenig mehr, hier fehlen vielleicht noch drei Schritte bis zur Spitze.

Welches bezeichnest du als den bislang wichtigsten Moment in deiner Karriere?

Hiervon gibt es zwei. Zum einen jenen Moment, wo ich meine Karriere gerettet habe, und jenen, wo ich sie lanciert habe. Beide Male geschah dies anlässlich eines FIS-Rennens in Zinal. Anfang April 2012, am Ende der Comeback-Saison nach meinem Kreuzbandriss, konnte ich dort einen Super-G gewinnen. Zuvor war es mir überhaupt nicht nach Wunsch gelaufen, ich hatte viel zu hohe Erwartungen an mich selbst und vermochte diese nicht zu erfüllen. Dass ich dann das allerletzte Rennen der Saison für mich entscheiden konnte, war für meinen weiteren Karriereverlauf zentral. Ohne diesen Sieg hätte ich wohl meinen C-Kader-Status verloren. Ich weiss nicht, ob ich dann weiter auf die Karte Ski gesetzt hätte, schliesslich hatte ich damals auch soeben die Matura gemacht. Möglicherweise hätte mich deshalb ein Studium gereizt. Durch die Lockerheit dieser Fahrt war jedoch die Freude am Skifahren zurück. Und dann kam zu Beginn der nachfolgenden Saison der nächste wichtige Moment, denn innerhalb zweier Tage konnte ich in Zinal zwei FIS-Slaloms auf überlegene Weise gewinnen. Es war rückblickend eine Art Startschuss für meine Karriere. Aus emotionaler Sicht waren aber die ganze Heim-WM 2017 in St. Moritz und mein Olympiasieg in der Kombination in PyeongChang natürlich die absoluten Highlights in meiner bisherigen Karriere.

Diese Olympia-Goldmedaille trägt sicher dazu bei, in Bezug auf die Sport-Karriere vieles etwas gelassener zu sehen.

Absolut, dieser Erfolg hat mir im letzten Jahr eine grosse Ruhe gegeben. Auch in diesem Jahr spüre ich das. Ich habe mich nicht gross verändert, aber ich habe zu mehr Ruhe gefunden. Ich durfte diesen Erfolg mit so vielen Leuten teilen, die mich auf dem Weg dahin unterstützt haben. Es war ein riesiges Privileg, solche Emotionen spüren zu dürfen. Viele Sportler dürfen das nie erleben. In dem Moment wird einem bewusst, was man auf dem Weg bis dahin alles erlebt und durchgemacht hat.

Nach dem Olympiasieg hast du gesagt, nun wüsstest du, weshalb erfolgreiche Menschen die Bodenhaftung verlieren können. Was hilft dir, so bodenständig zu bleiben, wie du bist?

Ganz klar die Familie, es ist aus meiner Sicht eine Frage des Umfelds. Als ich nach Hause kam, haben mein Freund Luca De Aliprandini und mein Bruder (beide auch Olympia-Teilnehmer in PyeongChang, d. Red.) mein Olympia-Rennen kritisch analysiert und das eine oder andere an meiner Abfahrt bemängelt. Ich musste innerlich schmunzeln und habe dann zu ihnen gesagt: Hey, ich habe gewonnen! Sie geben mir Halt und zeigen mir, dass es immer noch mehr zu verbessern gibt. Und dies mit ihrer vollen Unterstützung.

In der Saison 2012/13 hast du dein Weltcup-Debüt gefeiert und wenig später an den Junioren-Weltmeisterschaften die Silbermedaille im Slalom gewonnen. Welche persönliche Entwicklung hast du seither durchgemacht?

Wie wir alle bin ich erwachsener geworden, ich habe viele wertvolle Erfahrungen gemacht. Dies wiederum führt zu mehr Standhaftigkeit. Bezogen auf den Sport kann ich sagen, dass die Freude am Skifahren noch grösser geworden ist, sie wächst mit jedem Jahr exponentiell.

Du managst dich grösstenteils selbst, was für eine erfolgreiche und gefragte Athletin eher ungewöhnlich ist. Wie bringst du alles unter einen Hut?

Administrativ kriege ich schon auch Unterstützung von meiner Mutter, auch Dominique hilft mir in bestimmten Bereichen. Aber es tut mir gut, selbst Rechnungen schreiben und Dinge mit Sponsoren regeln zu können. So ist die Zusammenarbeit direkter und mir ist mehr bewusst was ein jedes Sponsoring bedeutet. Es hilft, die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Wir Sportler sind aktuell doch so weit weg von der normalen Arbeitswelt. Da ist es sicherlich vorteilhaft für später, wenn man das eine oder andere trotzdem kann. Ich versuche deshalb das, was geht, selber zu handeln. Manchmal dauert es etwas länger, bis ein Mail beantwortet wird, aber dann muss man bei mir einfach nochmals nachhaken.

Im Hinblick auf die WM in Åre hast du begonnen, Schwedisch zu lernen. Läuft dieses «Projekt» noch – oder hast du bereits das Erlernen einer weiteren Sprache in Angriff genommen?

Nach der erlittenen Verletzung ist meine Motivation fürs Schwedisch Lernen logischerweise ein wenig gesunken. Ein bisschen besser würde ich es gerne können. Während der Saisonvorbereitung wollte ich mich mit Sarah Hector auf dem Gletscher auf Schwedisch unterhalten, allzu weit sind wir allerdings nicht gekommen. Es gibt noch viel zu tun. Auch mein Spanisch will ich weiter vorantreiben. Von daher ist aktuell kein Erlernen einer weiteren Sprache geplant.

Mal abgesehen von Sprachen und Dingen ausserhalb des Skisports: Was steht auf deiner Bucket List aktuell ganz weit oben?

Ich bin nicht so ein Fan von diesen «Das-muss-man-gesehen-haben»-Listen. Das kommt dann mal zum Zug, wenn ich mich im Herbst meines Lebens befinde. Ich bin in einer privilegierten Situation. Durch meinen Job habe ich bereits die Möglichkeit sehr viele Dinge auf der Welt zu sehen. Ich komme mit vielen spannenden Leuten in Kontakt, mit welchen ich interessante Gespräche führen kann. Ein grosser Traum von mir ist aber sicherlich, mal nach Island zu reisen. Es ist aber gleichzeitig so, dass es quasi um die Ecke, in der Schweiz, viele interessante Reiseziele gibt. Vor ein paar Wochen war ich beispielsweise in der Vogelwarte Sempach. Ich fand das sehr eindrücklich und interessant. Man lernt dort viel über unser Land, über unsere Fauna. Für mich ist es nicht so wichtig, alles gesehen zu haben, was man angeblich so «muss». Mir ist es wichtiger, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen.

Quelle: Swiss-Ski.ch

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