Grüningen – Der Schweizer Skirennläufer Gilles Roulin, der am heutigen 14. Mai seinen 26. Geburtstag feiert, beantwortet dieses Mal unseren zur Tradition gewordenen Fragenkatalog. Er besteht dieses Mal aus fünf anstatt aus vier Fragen. Der Swiss-Ski-Athlet, der im Winter sein Bachelorstudium der Rechtswissenschaften abgeschlossen hat und auf eine etwas durchwachsene Saison zurückblickt, möchte im bevorstehenden Winter – vorausgesetzt, er findet statt – erfolgreich sein und gute Ergebnisse erzielen.
Gilles, wie für alle anderen Skirennläufer ist aufgrund des Corona-Virus auch für dich die Saison 2019/20 für dich frühzeitig zu Ende gegangen. Was kannst du Positives über deinen Winter berichten, und wo ist es dir nicht so gut ergangen?
Auch wenn die Saison nicht meinen Erwartungen entsprochen hat, habe ich doch viele neue und wertvolle Erfahrungen gewonnen. Niederlagen sind nie schön, tun weh und brauchen viel Kraft: Trotzdem bergen sie viel Potential und Chancen, wenn es einem gelingt, die richtigen Schlüsse aus ihnen zu ziehen. Aber wie überall ist nie alles schlecht und nie alles gut. Neben einigen Enttäuschungen konnte ich auch tolle Leistungen zeigen, dazu zählen beispielsweise der zweite Platz in der Kombiabfahrt in Wengen oder der 18. Rang in der Abfahrt von Kitzbühel.
Welche Hoffnungen und Lehren ziehst du im Hinblick auf den bevorstehenden Winter 2020/21, der ja mit der Austragung der Welttitelkämpfe in Cortina d‘Ampezzo ein sicherlich für dich anpeilbares Nahziel aufweist?
Als erstes und am meisten hoffe ich, dass wir nächstes Jahr überhaupt eine Saison haben werden. Die aktuelle Situation ist für alle Menschen sehr speziell und betrifft über den Sport hinaus mehr oder weniger sämtliche Bereiche unseres Lebens. Viel wurde durch die letzten Wochen auch relativiert, und vieles wird hinterfragt werden müssen.
Trotzdem ist es auch wichtig, nach vorne zu schauen und eine Vorstellung davon zu haben, was man erreichen möchte und wie man seine gesteckten Ziele erreicht. Mein Ziel ist es, nach einer sehr durchwachsenen Saison eine Reaktion zu zeigen und zu demonstrieren, dass ich in der Lage bin, mein Potential abzurufen. Wenn ich im Ziel abschwinge und sagen kann, dass diese Fahrt beherzt und am Limit war, bin ich sicher, dass ich mit dem daraus resultierenden Resultat gut leben kann.
Die Corona-Pandemie hat viele Pläne durcheinandergewirbelt. Sowohl Materialtests als auch nationale Meisterschaften mussten verschoben oder ersatzlos gestrichen werden. Viele sagen, dass der Sport dem Subsidiaritätsprinzip unterliegt und sich zuerst selbst helfen muss, bevor der Staat eingreift. Was kannst du dieser Aussage abgewinnen, und wie verbringst du deine „notgedrungene Auszeit“ in den eigenen vier Wänden?
Ich glaube, der Sport hat eine unglaublich wichtige soziale, gesellschaftliche aber auch wirtschaftliche Stellung. Der Sport ist eine Triebfeder für viele Entwicklungen und vermittelt viele wichtige Werte; zudem lenkt er vom Alltag ab und unterhält die Menschen. Natürlich ist der Sport gegenüber gewissen Bedürfnissen subsidiär. Gerade die Gesundheit, sowohl jene der Zuschauer als auch die der Teilnehmer an sportlichen Wettkämpfen sollte immer an erster Stelle stehen. Trotz oder gerade wegen Corona bin ich überzeugt, dass der Sport eine sehr wichtige Institution in unserer Gesellschaft darstellt und es im Interesse einer Mehrheit der Bevölkerung ist, dass Sport betrieben und gelebt wird, sowohl in der Breite als auch in der Spitze.
Eine Theorie besagt, dass Sport und Trainingseinheiten sehr viel zur Stärkung des individuellen Selbstwertgefühls beitragen. Man ist glücklicher, wenn man gesteckte Ziele erreicht und will noch besser werden. Hast du aus diesem Grund den Weg des Leistungssportlers gewählt, oder warum ist der alpine Skirennsport die „schönste Nebensache“ der Welt für dich?
Ich glaube, ganz unabhängig von irgendwelchen Bereichen ist es immer schön, wenn man sich Ziele steckt und diese dann erreicht. Speziell bei körperlichen Betätigungen kommen dann natürlich noch die hormonellen Effekte, welche durch das Training angeregt werden, hinzu. Nach einer strengen Trainingseinheit fühlt es sich dementsprechend gut an, man ist glücklich. Gleichzeitig bedeutet Spitzensport jedoch auch erbarmungsloser Wettkampf, und jeder Tag ist eine neue Herausforderung, niemand – nicht der Beste, nicht der Newcomer und nicht der Altmeister – kann sich von vergangenen Erfolgen etwas kaufen. Es geht darum, konstant seine Leistung zu bringen. Die Ziele und der Ansporn sind riesig, gleichzeitig gibt es jedoch keine Sicherheit und keine Garantien.
Für mich persönlich war es schon seit klein auf ein Traum und mein Ziel, eines Tages Sportler sein zu dürfen. Dass ich mir diesen Traum erfüllen kann und jeden Tag leben darf, ist für mich sehr besonders, und darüber bin ich sehr dankbar. Weshalb es gerade Skifahren geworden ist, kann ich nicht beantworten. Ich habe jedoch noch keine Sportart kennen gelernt, die mir ein solches Hochgefühl vermittelt, wie die zwei Minuten vom Start bis ins Ziel bei einer Weltcupabfahrt. (Fairerweise muss ich sagen, dass ich auch keine andere Sportart auf diesem Niveau betreiben kann – einen Tennisball wie ein Top 100-Spieler zu schlagen oder die 100 Meter unter 10 Sekunden zu laufen, ist wohl auch ein ziemlich tolles Gefühl.)
Wie geht es dir in deinem Studium der Rechtswissenschaften? Hand aufs Herz: Was verbindet den Skirennsport mit der Jurisprudenz?
Ich habe im Januar den Bachelor abgeschlossen. Darüber war ich sehr glücklich. Dass ich Sport und Studium verbinden konnte, war mir wichtig und eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Zur zweiten Frage: Eine sehr philosophische Frage, auf die ich keine eindeutige Antwort geben kann. Es gibt wohl weniger Gemeinsamkeiten als Unterschiede und trotzdem ist eines in allen Bereichen gleich. Es sind nicht Worte, die den Unterschied ausmachen, sondern Taten.
Bericht und Interview für skiweltcup.tv: Andreas Raffeiner